Ferienzeit

Tantchen beschließt ihren Laden für fünf Tage zu schließen. Wie gerne verfügte sie wie SelmaFee über Flügelchen. Flugs wäre die Welt zu bereisen.
Ich dreh und wende mich vorm Spiegel: nicht einmal Flugstummelchen sind erkennbar. Da muss ich mich wohl einem schnaufenden Ungetüm anvertrauen. Mit der größten Seilbahn Europas außerhalb der Alpen sitze ich nun oberhalb des Zusammenflusses zweier Flüsse. – Wisst Ihr, wo ich hocke?

Entspannt schlürfe ich das Getränk meiner Jugend, Cuba Libre. Prompt steigen Urlaubserinnerungen vom Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre hoch. Ich sehe Meer, Seen und Fjorde. Mit Selmas Bildern kommt die beeindruckende Landschaft des Nordens authentischer herüber als mit meinen Worten. Klar, Selma ist dazu noch eine nordische Fee.

Bist Du jetzt überrascht? SelmaFee hat Knipsis aus der Vergangenheit aufgestöbert: Tantchen und ihre Eltern in Norwegen 1962. Man beachte den berühmten gelben Seidenmantel von Tantchens Mutter und Vater stolz in seiner damals topmodischen Porschejacke.

Wie fand ich es spannend, wenn Vaters Auto per Kran aufs Schiff gehoben wurde. Ich malte mir aus, was geschähe, wenn der Wagen ins Meer plumpsen würde. Vaters angespannte Mimik ließ auf einen guten Ausgang erhoffen. Kratzer am Mercedes bedeutete versauter Urlaub.

Das schöne Auto und die tabakbettelnden Ziegen (wenn Ihr es nicht wisst, Ziegen stehen auf Tabak)

Endlich sitzen wir auf dem Schiff. Unsere sonst cool toughe Mutter, kreideweiß im Gesicht, umkrallt die Tasche mit allen Papieren. Ihr mantraartiger Monolog: „Hört ihr das Schiff bedenklich ächzen? Und nun zieht gleich ein Sturm auf …“

Es ist wie verhext, kaum betritt Mutter ein Schiff, schlägt ruhigstes Sommerwetter in ein wildes Sturmtief um. Voller Interesse beobachte ich sie. Wird sie seekrank? Nichts dergleichen! Im Seemannsgang stromere ich über das Deck, male mir Auftritte des Klabautermanns auf, hoffe blinde Passagiere zu entdecken. Sehe aber nur meinen Bruder, lässig, weltmännisch – wie er meint – am Kiosk Alkoholika kaufen. Ihr wisst ja, Spirituosen sind in nordischen Ländern Luxusgüter.

Endlich wieder Land unter den Füßen. Mutter bekommt Farbe, Vaters Mimik entspannt sich.

Unser Feriendomizil liegt am See – Natur pur. Unterkunft: ein mit Ochsenblut gestrichenes Holzhaus, sehr wetterbeständiges Rostrot. Ich denke an „Die Kinder von Bullerbü“. Herzlich werden wir empfangen. Zeit zu Bett zu gehen, ein Gräuel für mich: daumendicke Spinnen kriechen über mir an den Balken. Mit schreckensweiten Augen sehe ich mich verspeist.

Trotz Sprachbarrieren entstehen schnell Freundschaften. Ich geselle mich zu einem gleichaltrigen, weizenblonden Wikinger. Mit Händen, Füßen und Mimik verstehen wir uns bestens. Er, dessen Namen mir entfiel, bringt mir das Fahrradfahren bei.
Großen Spaß bereitet es uns, Blaubeeren zu pflücken, die den Boden des endlosen Walds bedecken, soweit das Auge reicht. Meine Mutter entzückt dies freilich nicht. Wie entfernt man Blaubeerflecken? Brüderlein amüsiert sich derweil mit nordischen Mädchen im Heu, schlicht seinen Trieben folgend, keinen Freund als Alibi.

Mich beeindruckte die Einladung zum Krebs- und Hummermahl. Festlich gekleidet nehmen alle im Garten an einer langen Tafel Platz. Nie zuvor verspeiste ich solches Getier. Wie ein gelehriges Äffchen imitiere ich die Einheimischen. Speziell das weiße Fleisch schmeckt mir gut. Mich beeindruckt der Reichtum unserer Gastgeber, selbst bei diesem Schnapspreisen können sie es sich erlauben, so viel zu trinken, wie sie möchten – und sie möchten viel.

Die Herren prahlen, jeden Morgen ihre Bahnen im See zu schwimmen. Mutter und Tochter grinsen, Wassertemperatur 15 Grad, die Herren quieken, alles schrumpft, heroisch wird nur der dicke Zeh vorsichtigst genässt. Dann wird der Rückzug stillschweigend angetreten, während die Damen feixend in den See hinaus schwimmen.

Bildungsbeflissen unternehmen wir eine Rundfahrt. Bei einer Reifenpanne in Lappland bekommen wir – verständlicherweise – die Abneigung gegen uns Deutsche zu spüren. Verachtung schlägt meinen Eltern und speziell meinem Vater (Jahrgang 1915) entgegen. Aus Verzweiflung werde ich als Kind vorgeschickt und schon bekommen wir einen neuen Reifen montiert. Kommentar des Monteurs: „Deinen Vater hätten wir verrecken lassen.“

Svartisen, ein Gebiet, das selbst im Sommer mit Eis bedeckt ist: Für die übrige Sippe geologisch interessant. Was begeisterte “kl. Tantchen”? Das Kackhäuschen, eine Holzbude, mitten auf dem Eis, das Highlight, die Exkremente waren teils hervor gequollen u. gefroren. Ja , ja die Gegend war beeindruckend, aber das Häuschen, einmalig!  Entzückt inspizierte ich es akribisch. Ihr müsst wissen, zur wenig großen Freude meiner Eltern, verkündigte ich, ich wolle Toilettenfrau werden. Entsetztes: Warum das denn, Du bist doch so geruchsempfindlich? Egal, entgegnete ich, ein krisenfester Job. Müssen muss der Mensch immer. Das hatten die lieben Erwachsenen davon, wenn andere Berufsüberlegungen mit “brotlose Kunst” vom Tisch gefegt wurden.

Eine Bergwanderung war angesagt. Fragt mich nicht wo und wie hoch. Ich kann nur sagen, nach einer Weile drehte ich durch. Heulend saß ich auf einen Felsen, „ich gehe kein Schritt weiter!“
Im Nachhinein bewundere ich meine Eltern. Keinen Vorwurf, kein Befehlston. Ingeborg, meine Mutter, setzte sich neben mich, tröstend und beruhigend. Seitdem habe ich eine Aversion gegen Berge.

Das war vorm Regen, unser Vater ist noch gut gelaunt, ganz rechts steht in neogotischer Haltung Brüderlein, da es hier weder Heu noch Mädchen gab, nur Natur ...

Schwedisches Wetter, grau in grau, Regengüsse. Mein Bruder und ich wir erinnern uns: bei Regen beißen die Fische. Quengeln: „Wir wollen angeln!“ Ingeborg, die sich ebenfalls langweilt, unterstützt uns. Vater tobt, die Scheibenwischer können kaum die Wassermassen bewältigen. Attacke seinerseits: „Rausgehen bei diesem Wetter? Da kann du deinen safrangelben Seidenmantel abschreiben.“ Entgegnung: „Nicht bei dieser Seidenqualität, du hast doch keine Ahnung!“
Stoisch steht sie im strömenden Regen, wir angeln fröhlich, Vater schmollt hinterm Steuer.

Meine Mutter, rechts, diesmal ohne den gelben Seidenmantel

Nun eine Frage, an Sie, liebe Leserinnen und Leser: hatte Ingeborg recht, wenn sie behauptete, in nordischen Ländern gebe es keine Privatheit der Grundstücke?

Wir buddelten also munter in Nachbars Garten nach fetten Köderwürmern.

Genug in die Vergangenheit geschaut. Jetzt esse ich Kanelikorppu (ein finnisches Wort in der Sprache der Bergischen). Weißt Du, SelmaFee, was das ist?
Eine Art bergischer Zwieback laienhaft gesagt.
Das war es: Familienferien vor fünfzig Jahren, als der Norden Skandinaviens noch Abenteuergebiet war.

Wer sich für frühere Nordlandreisen interessiert, den kann ich „Nordlandreise“, den Reisebericht von Karel Capek (der Mann, der das Wort „Roboter“ erfand), empfehlen. Er fuhr 1936 als „verheirateter Mensch“, wie er sich gerne beschreibt, mit der Schauspielerin Olga Scheinpflugova auf dem Schiff zum Nordkap, was er mit grandiosem Wortwitz schildert.

© Doris Vollmar, Köln 2011

9 thoughts

  1. Eine wunderbare Bechreibung. Es ist nicht allein Skandinavien, was ich als eine der wenigen Gegenden noch sehr gerne bereisen würde. (Obwohl da meine Kinder als Stellvertreter wunderschöne Fotos mitbringen) Es ist die Schilderung einer Vergangenheit, der ich ungemein nahe folgen kann.
    Da wachsen Unmengen an Anmutungen zu und die angenehmen Erinnerungen, die ich an meine Kindheit habe, werden verstärkt. Danke.

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  2. Liebe Hanne, haste Du Klasse gemacht!!! Schreibe “hier”, da mir bei den Mails zu viel Zeit verlorengeht: Schreiben u. es wird dann nicht gesendet.
    Sag Brüderlein, wäre baff, das er solche Photos besäß, ich hätte derlei nicht. Macht´s gut Ihr Beiden- versingt mir nicht im schottischen Hochmoor. Liebe Grüße Doris

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    • Und Du, liebes Tantchen, warst noch besser, echt fein geschrieben. Ich erinnere mich noch lebhaft an die Ziegen die den spärlichen Verkehr über die Pässe damals lahmgelegt hatten, nur mit Tabak und viel Geduld kamen wir weiter. Und machmal mit einem Kratzer am Auto:-). Liebe Grüße aus dem wolkenreichen und am letzten Bank Holidayweekend gut besuchten Cley, Dina. Brüderlein lässt grüßen.x

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    • Wir machen das ab und an und wundern uns.
      Danke fürs Kommentieren – huch, das ist ja 11 Jahre her.
      Ganz liebe Grüße
      The Fab Four of Cley
      🙂 🙂 🙂 🙂

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  3. Pingback: Masterchen privat « kbvollmarblog

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