Vindings Spiel – Ketil Bjørnstad

Rezension von Jargs Blog, Illustrationen von Susanne Haun

5195693_5195693_xl

“Mittagessen im Grünen. Eine stille Mahlzeit, als seien wir alle müde. Wir sind die einzige Familie, die sich hierher verirrt, zwischen Erlengebüsch, Birken und hohen Fichten. Die anderen sind nach Bogstad gefahren oder zum Østervannet, den großen Seen. Aber hier ist der Platz der Familie Vinding, wo man seine Ruhe hat, wo man am helllichten Tag Wein trinken kann, ohne dass es jemanden kümmert. Der Wind redet für uns. Und das Rauschen des Wasserfalls. Ich habe den Fluss nie so reißend erlebt. Ich sage es Mutter. Sie nickt, ohne sich zum Fluss umzudrehen, wie es jeder andere getan hätte.” (Zitat aus: Vindings Spiel v. Ketil Bjørnstad)

Norwegen, in den 1960er Jahren. Familie Vinding geht an einem Sonntag zum Picknick an den Stausee. Die Ehe der Eltern ist schwer zerrüttet und es ist spürbar, dass sie auch durch sonntägliche Ausflüge nicht zu retten sein wird. Doch dieser Sonntag bringt eine dramatische Wende – und alles ändert sich für den 15jährigen Aksel Vinding, seinen Vater und seine ältere Schwester, als seine angetrunkene Mutter vor seinen Augen unter äußerst tragischen Umständen ertrinkt.

“Da bin ich zur Stelle, packe seinen Arm, halte ihn zurück. Die Strömung ist stärker, als jemand von uns dachte. Im selben Moment lässt er Mutter los. Sie sieht mich mit diesem ungläubigen Blick an, begreift, ehe wir selbst es begreifen, dass es uns nicht gelingen wird, sie zu retten.”

Das schon vor dem Unglück durch die krisenhafte Ehe der Eltern belastete Familienleben erstarrt vollends und jeder der drei scheint für sich allein einen Weg durch die Trauer zu suchen, ohne dass man miteinander redet. Während die 18jährige Catherine sich abkapselt und eine Affäre mit einem um dreissig Jahre älteren Professor anfängt, verliert sich der Vater tagsüber in seinen ruinösen Immobiliengeschäften und abends in der Erinnerung an seine tote Frau, deren Lieblingsschallplatten mit der Musik von Ravel, Debussy, Bach und anderen den akustischen Vorhang bilden, hinter dem er für seine Kinder verschwindet.

Klavierhände (c) Zeichnung  von Susanne Haun

Der musikalisch begabte und durch die Mutter in der Liebe zur Musik bestärkte Aksel bricht heimlich die Schule ab, widmet sich voll und ganz dem Klavierspiel und übt bis zur völligen Erschöpfung. Während der “Summer of Love” und die Ereignisse in den späten 1960er Jahren die Welt zu verändern scheinen und die Jugend den Beatles und den Rolling Stones lauscht, gründen Aksel und einige andere vielversprechende jugendliche Talente Künstlergruppe “Die “jungen Pianisten”, die sich als Elite empfinden, den Weg zu musikalischen Höhen suchen, zum perfekten Spiel:

“Wir sind sechzehn Jahre alt. Die Musik denkt für uns. Sie spricht für uns. Wir sind die Finalisten”
“Nichts ist anormal, wenn es um klassische Musik geht, mein Lieber. Das ist eine Arena für Krüppel und Genies.”

Klavierhände (c) Zeichnung  von Susanne Haun (2)

Mit dabei ist auch das musikalische Wunderkind Anja Skoog, hochsensibel und äußerst begabt, die von ihrem ehrgeizigen, emotional verarmten Vater mit einem Übermaß an Disziplin gefördert, eifersüchtig bewacht und ausgenutzt, ja benutzt wird. Aksel verliebt sich in Anja und ist gleichzeitig Margarete Irene verfallen, mit der er seine erotischen Initation erlebt.
Für einige Monate halten die “Jungen Pianisten” eng zusammen, begleiten einander gegenseitig zu Talentwettbewerben und den mit hohen Erwartungen verbundenen Konzertdebüts. Doch Aksel hat zunehmend Zweifel am durchorganisierten Konzertbetrieb und dem Ehrgeiz seiner Künstlerfreunde.  Außerdem fühlt er sich zerrissen zwischen der sexuell aufgeladenen, aber liebesfernen Beziehung zu Margarete Irene und seiner Liebe zur zusehends unter dem Druck des Vaters magersüchtig werdenden Anja Skoog …

Der Norweger Ketil Bjørnstad ist Schriftsteller und Jazzpianist. In dem von Lothar Schneider ins Deutsche übertragenen Roman “Vindings Spiel”, dem ersten Teil einer Trilogie, erzählt er vom Erwachsenwerden eines musikalisch begabten Jugendlichen, der nach dem Unfalltod seiner Mutter, durchdrungen von Schuldgefühlen und Trauer, die Schule abbricht, sich ganz dem Klavierspiel verschreibt und zugleich Sexualität und Liebe entdeckt. Bjørnstad gelingt es in seiner in knapper Sprache erzählten und sorgfältig aufgebauten Geschichte, den Weg von Aksel zum jungen Mann nachzuzeichnen und sich tief in die Fantasien, Sehnsüchte und erotischen Nöte des durch den Tod seiner Mutter und die familiäre Sprachlosigkeit verstörten Jungen hineinzuversetzen. Eine große Bedeutung kommt erwartungsgemäß der (klassischen) Musik zu, die in “Vindings Spiel” zur alles verbindenden Konstante wird und sowohl im Hauptstrang der Erzählung um Aksel als auch in den Nebensträngen gewissermaßen den Ton angibt: gekonnt bindet Bjørnstad die Musik ein in den Fortgang der Handlung, beschreibt dabei die Wirkung manches Musikstückes so hervorragend, dass man es fast zu hören meint und geneigt ist, der Buchlektüre eine intensive musikalisch-akustische Recherche folgen zu lassen.

Klavierhände (c) Zeichnung  von Susanne Haun (3)

Dabei arbeitet Bjørnstad sorgfältig Aksels innere Motivationen und Veränderungen heraus: während Aksel zunächst vom Ehrgeiz besessen ist, ein erfolgreicher Musiker zu werden und damit erkennbar das Trauma des Unfalltodes der Mutter überdeckt und seine große Liebe zu beeindrucken versucht, wandelt sich seine Einstellung, als er erkennt, dass der musikalische Ehrgeiz nichts und der wahre musikalische Erfolg unmöglich ist ohne die Bereitschaft, der Musik auch das Leben in seiner ganzen Tiefe und Leidenschaft gegenüberzustellen. Am Ende entscheidet sich Aksel dafür, sich aus dem wahnwitzigen Wettlauf der “Jungen Pianisten” zu verabschieden und seinen eigenen Weg zu gehen.

Ein wunderbares Buch, das auf sprachlich und literarisch hohem Niveau mehrere Motive in eine Geschichte fasst: das Erwachsenwerden und seine Schwierigkeiten, darunter die ersten Erfahrungen mit Liebe und Sexualität, die Liebe zur Musik, die zur Obsession werden kann, und die Auseinandersetzung mit dem Tod und der Endlichkeit des Lebens. Dabei gelingen dem Autor wunderbare Bilder, die noch lange vor dem inneren Auge nachleuchten. Sowohl die musikalischen als auch die erotisch-amourösen Leidenschaften werden, ohne je ins platte Detail und damit ins Vordergründige abzurutschen, mit großer Intensität und feinem Gespür für die richtigen, in diesem Falle wenigen und sorgfältig gesetzten Worte geschildert.

Klavierhände (c) Zeichnung  von Susanne Haun (4)

Bjørnstad ist eine Geschichte gelungen, die ihre ganz eigene Kraft und Spannung ausstrahlt, zwischen den Zeilen voller Musik ist und der ich mich kaum entziehen konnte. Melancholisch, ja schwermütig und lebenstrotzig zugleich ist die Grundstimmung des Buches, dem man anmerkt, das es ein Autor geschrieben hat, der zugleich Musiker ist. “Vindings Spiel” verdient allerdings die volle Aufmerksamkeit des Lesers, liest sich nicht nebenbei und ist erst recht keine leichte Lektüre. Darum lese man dieses Buch so, wie man eine große Symphonie hören sollte: mit voller Aufmerksamkeit , um die ganze, aufwühlende, die Wahrnehmung und Empfindung steigernde Wirkung erfahren zu können. Die besondere Stimmung, die bei der Lektüre des Romans entsteht, wirkten bei mir noch lange nach.

© Text: Jargs Blog © Illustrationen: Susanne Haun

76 thoughts

  1. Pingback: Vindings Spiel : Roman / Ketil Bjørnstad « Jargs Blog

    • Danke, Petra, der Roman ist sehr atmosphärisch und einfühlsam. Zur Klaviermusik, die ich von Ketil Bjornstad auf CD besitze, werde ich morgen früh meinen Phantasiefluß dazu zeichnen.
      Einen schönen Abend wünscht dir Susanne

      Like

    • Ja, liebe Marion, das finde ich auch. Das Zusammenspiel ist großartig.
      Liebe Grüße zu dir in der Schweiz aus dem sonnigen Cambridge,
      Hanne

      Like

    • Danke liebe Hanne,

      winke mal herzlich nach Cabridge und wünsch euch Vieren fein ausklingende Winterpausentage.

      Marion

      Like

    • Liebe Nomadenseele, herzlichen Dank für den lieben Kommentar. Ich stimme dir voll zu!. Text und Skizzen ergänzen sich bestens.
      Schönen Tag dir,
      Herzliche Grüße aus Cambridge,
      Dina-Hanne

      Like

  2. Es tut einfach gut, hier zu lesen und zu schauen! Eine absolut gelungene Zusammenarbeit von zwei Talentierten, die sich gut zu ergänzen scheinen. Für uns als Leser und Betrachter ist es allemal bereichernd!
    Danke, liebe Susanne und lieber Jarg!
    Und auch Dir, Dina, einen herzlichen Gruß und ein Danke, dass Du dieses Miteinander (vermutlich) angeschubst hast.
    Liebe Grüße, mb

    Like

    • Danke für das Lob, mb.
      Ich bin leider absolut unmusikalisch obwohl ich sehr gerne Musik höre, während ich zeichne. Aber ich komme immer beim Mitsingen aus dem Rhythmus und verpasse die Einsätze. *grins*
      Liebe Grüße Susanne

      Like

    • Vielen Dank für die freundlichen Worte, mb! Der Dank muss natürlich Dina gelten für die Möglichkeit, die Rezension auf ihrem bemerkenswerten Blog einzustellen, und Susanne Haun für die wunderbaren Bilder dazu.

      Like

    • Vielen Dank für das Lob, mb. Ich habe mich sehr gefreut!. Die Ehre gebührt vollends Susanne und Jarg, eine tolle Zusammenarbeit und ein feines Zusammenspiel.
      Liebe Grüße zurück aus dem sonnigwarmen Cambridge,
      Dina-Hanne

      Like

  3. Eine ganz tolle Rezension und die Zeichnungen dazu sind einfach nur wunderschön. Ihr macht mir Lust darauf, das Buch so bald wie möglich zu lesen. Beim Lesen werde ich die Bilder von Susanne sicherlich im Kopf haben. 🙂

    Like

  4. Liebe Hanne-Dina,
    danke für das Veröffentlichen dieses gelungenen Post.
    Lieber Jarg,
    du beschreibst das Buch so, wie ich es auch empfunden habe. Gerade diese dramatische Stelle, wo die Mutter ungläubig schaut und ihrem Schicksal preisgegeben ist.
    Einen schönen Samstag wünscht Susanne

    Like

    • Liebe Susanne,
      ich danke dir ganz, ganz herzlich für die großartige Leihgabe der ausdrucksvollen Skizzen. Deine schönspielende Hände sind jetzt für immer mit Vindings Spiel verknüpft.
      Ich freue mich sehr auf unsere weitere Zusammenarbeit! 🙂
      Liebe Grüße dir aus Cambridge,
      melde mich demnächst aus Bonn,
      Hanne-Dina

      Like

    • Liebe Hanne-Dina,
      ich freue mich auch auf die weitere Zusammenarbeit.
      Viel Freude dann noch in Cambridge und einen schönen Tag dir und den Buchfeen sendet dir Susanne

      Like

  5. Liebe Hanne, auch von mir nochmal vielen Dank für die schöne Idee, die Rezension zu diesem bemerkenswerten Buch mit Bildern verbunden auf Deinem Blog einzustellen.
    Dir, liebe Susanne, danke für die schönen Illustrationen. Es ist schön, wenn Du und andere, die das Buch gelesen haben, sich in der Rezension wiederfinden können. Und vielleicht trägt dieser Blogbeitrag ja dazu bei, dass Bjørnstad in Deutschland noch etwas bekannter wird.
    Ein schönes Restwochenende wünscht Euch beiden
    Jarg

    Like

  6. Wir sagen, dass wir der Einfachheit zu schätzen wissen in unserem Leben. Dennoch genießen wir die Analyse der Motive und Gefühle von komplexen Beziehungen. Dieses Buch scheint voll zu sein von Grundstücken und Nebenhandlungen, die die Seele nähren. Vielleicht Einfachheit und Komplexität sind Spiegelbilder.

    Like

  7. Eine wundervolle Zusammenarbeit! Danke Euch Dreien dafür! Das ohnehin schon sehr intensive Buch wird durch die tollen Zeichnungen noch eindrucksvoller!
    Liebe Grüße und einen schönen Sonntag,
    juneautumn

    Like

  8. Beautiful prints of the hands playing the piano! I love it so much! My husband also plays the pinao. I love it when he is playing in the living room. That’s so nice to hear! A wonderful post too!

    Like

  9. Pingback: Der reissende Fluss – Zeichnung von Susanne Haun « Susanne Haun -> Drawing -> Zeichnung -> Dibujo -> 水彩画

  10. Pingback: Weitere Bilder zu Vindings Spiel von Ketil Bjørnstad « Jargs Blog

    • YESSS, dark chocolate is the only way of chocolate delight für me too: the whole fun begins at 70% cocoa percentages an higher – wether with chilies or not!!
      It is amazing, that illustrated postings about norwegian authors an their books can lead to one’s favourite chocolate taste, isn’t it !? 😉

      Like

    • Yes, it is… I think chocolate is a great theme. Chocolate gives us satisfaction as well as noodles.
      I like the bitter chokolate because I have the taste of chocolate in my mouth not the taste of suger.
      Dina you have rigst, your blog is like a bar of chocolate!
      Have a nice day you both, greetings from Susanne

      Like

    • Dear Diana,

      thanks for your kind comment.
      Ketils book “The story of Munch” is well worth reading, it’s a documentary novel, give it a try! 🙂 Another book of his that gives you a good insight on the living artists of that time is “Oda”. On Susanne Hauns blog you can find a beautiful post on “Oda”.

      Greetings from Cambridge
      Dina

      Like

  11. Leser med interesse, – flotte skisser av hender!
    Leste også din andre blogg og studerte bildene der. Likte den lille flaska merket “forfatterens tårer”! Ønsker dere en flott kveld og ukestart!

    Like

    • Takk skal du ha!
      “Forfatterens tårer” var en souvenir fra Dublin… 🙂
      Ha en fin uke du også!

      Hilsen fra Dina, Siri og Selma i Cambridge og
      Klausbernd i Norfolk
      🙂

      Like

  12. ..von den feinen Zeichnungen bin ich ganz begeistert … und die Rezension ist wunderbar geschrieben, einfühlsam und tiefgehend – diesen Beitrag habe ich mir jetzt mal abgespeichert, denn er macht richtig Lust, dieses Buch zu lesen!

    Ganz liebe Grüße an dich, liebe Dina 🙂
    Ocean

    Like

  13. Liebe Ocean,

    herzlichen Dank für deinen lieben Kommentar! Grüß mal bitte deinem Lisa-Monsterchen ganz lieb von mir, dicken Nasenstupser inklusive.
    🙂
    Gute Nacht Grüße aus Cambridge
    Dina

    Like

  14. Pingback: The World according to Susanne Haun – a passionate life | The World according to Dina

  15. Pingback: The World according to Susanne Haun – a passionate life Posted on 24. Februar 2013by Dina | …abstrakte, expressive Malerei

  16. Pingback: Jargsblogs beste Bücher 2013: Romane | Jargs Blog

  17. Pingback: 5 Jahre Jargsblog: eine kurze Bilanz und eine Ankündigung | Jargs Blog

Leave a comment

This site uses Akismet to reduce spam. Learn how your comment data is processed.